Ein kleiner Käfer krabbelte mühsam auf steinigem Weg. Es waren viele Hindernisse auf seiner Straße. Strohhalme und sonstige schwer zu bewältigende Gegenstände. Es war recht anstrengend. Fliegen konnte er nicht. Es war ein Krabbelkäfer. Zudem war sein linkes Hinterbein verkümmert - schon von Geburt an. Er schleppte es nach. Es war ein trauriger Fall. Aber er pilgerte tapfer weiter. Käfer gehen und wandern nicht. Sie pilgern. Das ist ein großer Unterschied.
Gehen Sie doch aus dem Wege!
schrie eine Hummel, namens
Summser, den Pilger an und brummte böse.
Strolcht so was auf der Straße herum und stört achtbare
Damen, die sich auf den Blumenmarkt begeben!
Entschuldigen Sie
, sagte der Pilger mit dem schleppenden
Hinterbein, ich muß pilgern, ich bin ein
Krüppel.
Er wies mit dem Fühlhorn auf das verkümmerte
Hinterbein.
So, so
, sagte Frau Summser mitleidig, dann ist
es ja etwas anderes. Das habe ich nicht gesehen. Ich war so
eilig. Wenn man heutzutage nicht sehr zeitig an die Blumen kommt, ist
alles vergriffen. Die Konkurrenz ist
sehr groß. Aber warum müssen Sie den pilgern? Wäre
es mit Ihrem Bein nicht besser, Sie würden zu Hause
bleiben? Sie müßten heiraten. Dann haben Sie wenigstens
Ihre regelmäßigen Mahlzeiten.
Nein, ich muß pilgern
, sagte der Pilger mit dem
schleppenden Hinterbein. Ein alter Käfer, den ich wegen
meines Leidens konsultierte, sagte mir das. Er sprach von der Religion
des heiligen Skarabäus und sagte, ich
müsse das Rad des Lebens suchen. Das ist ein sehr alter Glaube
und ein großer Trost für arme Krabbelkäfer.
Und was hat man davon?
fragte Frau Summser. Es
ist doch gewiß viel vernünftiger, rechtzeitig auf den
Markt zu kommen.
Der kleine Käfer zog das verkrüppelte Bein mit einer zuckenden
Bewegung an den Körper, so daß es nicht
mehr zu sehen war. Man kann ein Rosenkäfer werden
,
sagte er geheimnisvoll.
Ist das ein lohnender Beruf?
fragte Frau Summser.
Sie war eine überaus praktische Hausfrau. Ihre Honigtöpfe waren unübertroffen und bekannt im ganzen Umkreis eines Insektenflugs.
Man glänzt dann wie flüssiges Gold, und man kann fliegen.
Man ruht in den Rosen und atmet ihren Duft.
Frau Summser wurde hierdurch an Ihren Markt erinnert. Jetzt
muß ich mich wirklich beeilen
, sagte sie, die
Konkurrenz ist eine zu große heutzutage. Jedenfalls wünsche
ich Ihnen alles Gute.
Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein pilgerte weiter. Über den Weg kam ein Wagen gefahren.
Das ist das Rad des Lebens, dachte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein und hastete darauf zu.
Das Rad ging über ihn hinweg.
Auf dem Weg blieb nichts als eine formlose Masse.
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Zur selben Stunde kroch im sonnigen Süden ein kleiner Rosenkäfer aus dem Ei. Ganz zuerst betastete er mit dem Fühlhorn sein linkes Hinterbein. Er wußte selbst nicht, warum er das tat. Das linke Hinterbein war gesund und glänzte wie flüssiges Gold. Es war fast noch schöner und glänzender als die anderen Beine.
Die Rosen dufteten.
Das Rad des Lebens ging weiter.
Aus: Das Manfred Kyber Buch, Rowohlt, Dezember 1985
Veröffentlicht auf:
manfred-kyber.pinkneutrino.com/de
Textversion: 2005-10-08 (a)