Jeremias Kugelkopf war ein Seehund. Er war ein friedfertiges Geschöpf. Er war innerlich, wie er äußerlich war: rund, kugelig und ohne Ecken. So war Jeremias Kugelkopf.
Er lebte weit draußen im Weltmeer, und die Wellen des Weltmeeres trugen ihn wie in einer Wiege. Er wußte, daß das Weltmeer sehr wild sein konnte, und er wußte, daß es sehr still sein konnte. Er wußte, daß das Weltmeer sehr groß war und daß er sehr klein war. Darum war Jeremias Kugelkopf still und bescheiden.
Mittags aß er Fische. Aber damit waren seine Interessen nicht erschöpft.
Jeremias Kugelkopf hatte auch höhere Interessen. Wenn die Glocken läuteten an der Küste von Feuerland, hob er den Kopf aus dem Wasser, klappt die Ohren weit auf und hört andächtig zu. Dann kamen Tränen aus seinen Augen, tatsächlich Tränen.
Eigentlich wäre es doch sehr schön, ganz an der Küste von Feuerland zu leben, dachte Jeremias Kugelkopf, dann höre ich die Glocken ganz nah und brauche die Ohren nicht so weit aufzuklappen. Es kommt so leicht was hinein. Mit den Ohren muß man sehr vorsichtig sein.
Jeremias Kugelkopf klappte die Ohren sorgsam zu, bürstete den Schnurrbart mit der Flosse und schwamm an die Küste von Feuerland.
Das Abendrot legte sich über das Weltmeer. Es wurde kühl in den Wellen. Jeremias Kugelkopf störte das nicht. Er hatte eine Speckschicht. Seine Garderobe war so eingerichtet. Sie war seetüchtig in jeder Beziehung.
Am Ufer tat Jeremias Kugelkopf einen gewaltigen Satz und schnellte sich hinauf. Dann rutschte er weiter und sah sich mit großen Augen um, so wie jemand, der eine Wohnung sucht und gespannt ist, was er finden wird.
Was Jeremias Kugelkopf fand, war sonderbar.
Auf dem Ufer saßen Scharen von Pinguinen. Sie wedelten mit den Flügeln, die wie Talare auf weißen Vorhemden aussahen.
Das sind sehr komische Vögel, dachte Jeremias Kugelkopf, solche Vögel habe ich noch nicht gesehn. Es sind auch so viele und sie sprechen alle durcheinander. Es ist so geräuschvoll. Ich glaube, es ist nichts für mich.
Die sonderbaren Vögel kakelten und verbeugten sich dabei unentwegt. Es sah sehr possierlich aus.
Es scheinen höfliche Leute zu sein, dachte Jeremias Kugelkopf und rutschte näher.
Ein Vogel watschelte auf ihn zu. Er war groß und dick, eine kegelförmige Figur.
Sie wollen wohl unsere Eier besichtigen?
fragte er verbindlich.
Wir legen sehr viele Eier. Viele Touristen aus dem Weltmeer kommen
sie besichtigen. Es ist eine Sehenswürdigkeit. Aber Sie dürfen sie nicht näher untersuchen.
Das erlauben wir nicht.
Nein
, sagte Jeremias Kugelkopf kleinlaut, die Eier,
die Sie legen, wollte ich eigentlich nicht sehen. Ich wollte die Glocken von Feuerland läuten hören.
Die Glocken läuten hier oben doch jeden Abend? Oder habe ich mich geirrt?
Der dicke Vogel zuckte pikiert mit den verkümmerten Flügeln.
Natürlich läuten die Glocken
, sagte er ärgerlich,
aber die Hauptsache sind doch die Eier, die wir legen!
Jeremias Kugelkopf verstand nicht gleich. Er war ein bißchen tranig.
Da läuteten die Glocken von Feuerland und Jeremias Kugelkopf freute sich.
Im selben Augenblick aber fuhren die sonderbaren Vögel aufeinander los. Sie verneigten sich nicht mehr. Sie wedelten wütend mit den Talaren, kreischten entsetzlich und zankten sich um die Eier. Man hörte das tiefe Weltmeer nicht mehr ans Ufer branden, und die Glocken von Feuerland erstickten im Geschrei.
Jeremias Kugelkopf klappte voller Schrecken die Ohren zu und sprang mit einem Satz ins tiefe Weltmeer zurück.
Er ruderte ganz verstört mit den Flossen und schwamm weit, weit von der Küste fort.
Auf einer kleinen Insel ruhte er sich aus.
Bis hierher drang das Geschrei der sonderbaren Vögel nicht mehr um die Eier, die sie gelegt hatten. Aber durch die klare, reine Luft trug der Wind die Glockentöne von Feuerland über das tiefe Weltmeer.
Da war Jeremias Kugelkopf dankbar und froh und blieb für immer auf seiner einsamen Insel.
Jeden Abend hörte er die Glocken läuten.
Dann war Jeremias Kugelkopf gerührt und weinte.
Die Tränen fielen ins Weltmeer.
Aus: Das Manfred Kyber Buch, Rowohlt, Dezember 1985
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Textversion: 2015-03-08 (b)